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Pferdemist verbinden – 1:12 Sinne

 

Pferdemist verbinden
1 : 12 Sinne

Die Ereignisse in der gegenwärtigen Zeit betreffen uns, wie viele andere natürlich auch, in unseren menschlichen Beziehungen stark. Am 22. Juli vor einem Jahr starb Rashas Mutter. In der ägyptischen Kultur ist es für Verstorbene und Hinterbliebene sehr wichtig und bedeutsam am ersten Todestag am Grab zusammen zu kommen. Leider scheint es, als ob wir die Reise nach Kairo dorthin aufgrund der, wegen der Coronapandemie geschlossenen Grenzen nicht werden antreten können.
Wir leben ohnehin in einer Zeit die von Grenzen und Grenzüberschreitungen geprägt ist. Man braucht es nicht groß erklären, jeder weiss es. Wir sind an der Grenze der Belastbarkeit der Natur und damit an den Grenzen der Ideologie des ewigen wirtschaftlichen Wachstums und des Ressourcenverbrauchs. Die anghäuften Waffenarsenale können den Planeten hunderte Male zerstören. Wir sind an der Grenze der für ein natürliches Gleichgewicht erträglichen Anzahl von Menschen auf der Erde. Durch ungerechte Verteilung von Macht, u.a. von wirtschaftlicher, militärischer, politischer Art, stoßen wir weltweit an die Grenzen des sozialen Friedens. Die wohlhabenden Länder machen die Grenzen für Millionen von Migranten dicht. Während Wissenschaft und Technik in Bereiche vordringen, die vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wären, bleibt der Mensch gesamtgesellschaftlich in seiner Entwickelung stehen bzw. fällt zurück. Durch Vernachlässigung umfassender Menschenbildung sind wir der Globalisierung und Differenzierung geistig und emotional nicht gewachsen. Es entstehen wieder Nationalismen, Gruppendenken, Hass auf anders Geartete. Usw…

Uns, Rasha und Christoph, führen diese Grenzthemen dazu, uns auf verschiedene Art und Weise vermehrt mit innerer Öffnung, innerer Weitung auseinander zu setzen.

Einst sammelte Christoph Pferdeäpfel in eine Plastiktüte und brachte sie in sein Arbeitszimmer. In Kombination mit Bütten und den weissen Rückseiten von Fotografien machte er damit eine 32-teilige Bilderserie. Die Fotos entstanden 1988 auf einer Zugfahrt während einer Chinareise mit seiner krebskranken Mutter relativ kurz vor ihrem Tod.
Danach verblieb ein üppiger Rest der Pferdeäpfel in der Tüte, wurde zur Seite gelegt und vergessen. Immer wieder mal erinnerte sich Christoph, verschob es aber die Tüte zu öffnen und nachzusehen, was aus den Pferdemist zwischenzeitlich geworden ist. Sie einfach ungesehen entsorgen wollte er nicht. Monate später entschloss er sich schließlich dazu. Voll ekelbesetzter Erwartungen machte er sich daran. Als er sie öffnete stieg ihm, entgegen aller unappetitlichen Vorstellungen, ein intensiver Geruch von Heu, ein stark würziger Duft von frisch gemähter Wiese entgegen. Erwartet hatte er Maden, Würmer, Schimmel, Verwesung und Gestank. Stattdessen blickte er zu seiner großen Überraschung auf unversehrte, wohlriechende, saftig braune Bällchen.
Später erfuhr er, dass Pferdemist keimfrei, antiseptisch ist und früher zur Wundheilung verwendet wurde.

Als Rasha sieben Jahre alt war schickte ihre Mutter sie täglich zum einkaufen von Falafel, heißem Fladenbrot, Salat und Foul. Das sind Bohnen aus denen ein köstliches Frühstück bereitet wird. Sie fand das auf die Dauer sehr langweilig und begann weite Umwege in dem Kairoer Viertel zu gehen. Dabei stiess sie auf einen Laden an dem sie dann täglich vorbeiging. Der Besitzer war ein alter, etwas unheimlicher, immer schlecht gelaunter Mann mit einem großen und langen Gesicht, einer dicken Brille und einer tiefen Stimme, mit der er viel schimpfte und fluchte. Besonders schimpfte er Kinder, die er von allen Menschen offensichtlich am wenigsten mochte. Im Laden trug er stets die gleiche schmutzige weiße Galabeya (traditionelles hemdartiges Gewand mit weiten Ärmeln und sehr weitem fast bis zum Boden reichenden Rockteil). Nur wenn er auf die Straße ging warf er eine blaue darüber. Der Laden war voll Regale, offiziell dem Verkauf von Gewürzen und Räucherwerk dienend. Hautpsächlich jedoch waren darin alle möglichen Utensilien für Magie und Zauberei.  Tote Schlangen und Skorpione, ein getrocknetes Chamäleon, Tierhäute, Kamelfett, Harze, Öle, Kräuter, verschiedene Erden, Wurzeln, gemahlene Knochen usw.
Zur Straße hin war der Eingang für Besucher durch eine Theke versperrt. Sie liess sich nach oben klappen, damit der Ladenbesitzer nach draussen konnte. Niemandem sonst war es jedoch erlaubt seinen Raum zu betreten. Vor dem Geschäft standen rechts und links des Einganges zwei Bänke auf denen hauptsächlich Frauen warteten bis sie an der Reihe waren. Sie traten dann zu ihm an den Tresen erzählten ihm tuschelnd den Grund ihres Kommens und was er für sie durch Magie beinflussen oder hervorbringen solle. Die Unfruchtbarkeit des Mannes oder von ihr selbst auflösen. Dass sie, oder später die Tochter endlich einen Mann finde und heirate. Dass der Mann zu ihr zurückkehre. Jemanden bestrafen… Seinem Ruf nach betrieb er sowohl schwarze wie auch weisse Magie; allem Anschein nach war es allerdings mehr schwarze. Er war bekannt für seine Fähigkeiten und die Leute kamen von weit her.
Er hatte verschiedene Papiere, die er von Altpapierhändlern mit Eseln oder Holzschubkarren kaufte. Das waren beschriebene, nicht mehr gebrauchte Schulhefte. Muffig riechende, aussortierte behördliche Schriftstücke. Vergilbte Geschäftpapiere, Rechnungen, Kalkulationen und Zeitungen. Nachdem er das Anliegen seiner Kunden gehört hatte, verschwand er in die Dunkelheit des Ladens, ergriff eines oder mehrere von diesen Papieren, ging zu den verschieden Regalen und warf die für den Zauber nötigen Zutaten darauf. Dann wickelte er die Papiere schnell zusammen, sprach mit dem Rücken zum Eingang Formeln und reichte es der Wartenden draussen. Dazu gab er mit lebhafter Mimik, femininer Gebärde und einer auf einmal sehr hohen, beinahe weiblichen Stimme Anweisungen. Sie sollten das Gemisch  in einem Glas mit Wasser verrühren und sieben Nächte lang ins Mondlicht stellen. Danach sollten sie es trinken. Oder sie sollten ihren Körper damit waschen – aber nicht im Bad oder Toilette, sondern in einem sauberen, reinen Wohn- oder Schlafzimmer. Andere sollten täglich bestimmte Pflanzen mit dem Wasser giessen. Oder mitten in der Nacht an eine Kreuzung gehen und es dort ausschütten. Wieder andere sollten das von ihm zuvor mit roten magischen Zeichen versehene Päckchen in die Matratze einnähen oder es in ihrem Büstenhalter verstauen.
Rasha hatte Angst vor dem Mann und ging aus Furcht davor geschimpft zu werden, immer langsam an dem Geschäft vorbei. Nur wenn er mit dem Rücken zur Straße, seine Beschwörungen murmelte blieb sie kurz stehen. Dabei versuchte sie, soviel wie möglich zu verstehen, was da vor sich ging. Wenn nur eine Kundin da war, sprachen der Hexer und sie in normaler Lautstärke. Wenn Mehrere aber warteten, flüsterten sie.
Trotz ihrer Furcht kam Rasha jeden Tag. Manchmal zweimal.
Auf der anderen Straßenseite war ebenfalls ein Magier. Dieser war ein freundlicher, herzlicher, allein sich auf Krankheiten konzentrierender Zauberheiler. Rasha mochte ihn gerne. Es war ihr aber verboten die große Straße zu überqueren, um zu ihm zu kommen.

Wir verwenden das Verhältnis 1 : 12 nicht in räumlicher, sondern in zeitlicher Weise.
Die 1 steht für 1 Jahr. Die 12 für 12 Monate (und 12 Sinne).
Beginnend im Juli 2020 werden wir die Performance ein Jahr lang jedes Monat in variabler Form am gleichen Ort wiederholen/ fortführen.

Die Handlung wird im Freien stattfinden und so, dass der nötige Sicherheitsabstand eingehalten wird.
Ausgehend von den oben erzählten Geschichten agieren Rasha und Christoph parallel, unabhägig voneinander. Sie sind wie umeinander sich drehende Umlaufbahnen verbunden und doch für sich.

Die Gesamtdauer beträgt 48 Minuten, also 4 Minuten in jedem Monat.

 

Termine

Teil 1/12 am Samstag, 11.07., 20 Uhr
Teil 2/12 am Sonntag, 09.08., 11 Uhr
Teil 2/12 am Donnerstag, 24.09., 17:30 Uhr

Termine werden immer 2 Tage vorher auf der Toffaha-Webseite bekanntgegeben: http://www.toffaha.org/current.html

 

Das Ganze findet einen Abschluss in einer Installation mit den entstandenen Artefakten.

 

toffaha (Rasha Ragab & Christoph Nicolaus)

Toffaha (arabisch Apfel) ist das Künstlerpaar Rasha Ragab und Christoph Nicolaus. Sie arbeiten, neben ihrer individuellen künstlerischen Tätigkeit, seit Oktober 2012 zusammen. Ihre Videos, Fotos und Performances geschehen oft sehr spontan, oft sehr geplant.
Sie entstehen im Einfluss ihrer unterschiedlichen kulturellen Prägung als Afrikanerin und Europäer, Ägypterin und Deutscher, Nubierin und Bayer, schwarz und weiß, sowie aus dem muslimisch-arabischen und christlich-germanischen Kultur- und Sprachraum entstammende Frau und Mann.

Rasha Ragab, geboren 1971 in Kairo, ist Künstlerin und Kuratorin u.a. im „Museum of Modern Art in Cairo“.
Ausstellungen im In- und Ausland seit 2003.
Sie lebt und arbeitet in München.

Christoph Nicolaus, geboren 1962 in München, ist Künstler, Musiker sowie Veranstalter verschiedener Kunstereignisse, u.a. von „Kunst im Bau“ und „Klang im Dach“ (früher „Klang im Turm“). Ausstellungen, Konzerte, Performances und multimediale Projekte im In – und Ausland seit 1994.
Er lebt und arbeitet in München.

www.toffaha.org