Carolin Wenzel

Sehnsuchtsgedeck

 

Zwischen Fernweh und Tafelrunde

Carolin Wenzel – Sehnsuchtsgedeck, 2020

„Kannst dir gerne ein paar g´stickte Deckerl aus der Kufern[1] raussuchen,

leg´aber die anderen wieder g´scheid und einigermassen ordentlich aufeinander!“

Und schon war ich oben im Speicher und wühlte in den textilen Vermächtnissen vergangener Tafelrunden auf der Suche nach Tischdecken, die als Projektionsfläche derzeitiger Entbehrungen dienen könnten.

Handarbeit beruhigt in stürmischen Zeiten.

Und wenn ich mir dann noch die von Amalia Rodrigues buchstäblich in den höchsten Tönen besungene casa portuguesa vorstelle, bei der jeder, der an die Türe des bescheidenen Häuschens klopft, in geselliger Runde am gedeckten Tisch empfangen wird, ganz ohne sich vorher die Hände zu desinfizieren und sogar noch Umarmungen und Küsse zu erwarten hat, dann wird mir warm ums Herz, und ich sticke und sticke;

komplett systemirrelevant, völlig analog, Haptik-trunken, mit steifem Nacken, auf ein altes Tischtuch, das lange, und mit kleinen Löchern und Flecken beseelt, in der oberpfälzischen Holz-Kufern ruhte und schon viele Kaffeetische und Abendbrote unterlegte.

Und schwelge in Fernweh, während ich, im Lotussitz, wie einst Nam June Paiks TV Buddha vor dem blau flimmernden Bildschirm meditiere und mich nach nichts mehr sehne, als dem billigen Vergnügen in einer verlotterten casa portuguesa – mit goldgereiften Trauben von der ungewaschenen Hand in den Mund.

[1]   Truhe

Carolin Wenzel

Carolin Wenzel studierte an der Kunstakademie München Bildhauerei und Installation und unterrichtet seit 2012 Kunst am Gymnasium. Bereits während des Studiums begann sie zahlreiche Reisen zu unternehmen, unter anderem nach Ägypten, Marokko, Usbekistan, Armenien, Israel, Japan, USA, Brasilien und Niederbayern, die bis heute als Inspiration für ihre verschiedenen bildnerischen Arbeiten dienen. Von 2015 bis 2017 lebte sie in Portugal.

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