Andrea Golla

SEXES

EXESE

XESEX  …220 x 120cm

 

Seit dem 11.3.2020 knüpfe ich einen neuen Teppich, 220*120 cm, länger und breiter als seine Vorgänger. Wann ich fertig sein werde, kann ich heute noch nicht abschätzen, am letzten Teppich habe ich acht Jahre geknüpft.
Ich führe ein Knüpftagebuch in dem ich Datum, Uhrzeit (Arbeitszeit) und Länge des bereits Geknüpften notiere. Dadurch kann ich sehen, wie lange ich tatsächlich an einem Teppich knüpfe, denn meistens arbeite ich parallel an anderen Projekten.
So behalte ich den Überblick. Bis jetzt habe ich 236 Stunden und 68,5,cm geknüpft.
(Stand 15.5.2020)

Meine Teppiche sind Langzeitprojekte an denen ich mehrere Monate oder Jahre arbeite. Der zeitliche Aspekt ist mir sehr wichtig, denn ich lerne geduldig zu sein.
Ich ziele nicht nach schnellen Ergebnissen.
Knüpfen ist meditativ. Immer gleiche Bewegungsabläufe wiederholen sich.
Einzelne Knoten reihen sich aneinander, werden zu Linien und dann zur Fläche.
Man arbeitet von links nach rechts, und von unten nach oben.
Die Bewegungsabläufe sind monoton.

Knüpfen hat für mich sehr viel mit Erinnerung zu tun. In meiner Kindheit, in den 1970er Jahren war Knüpfen ein vielbetriebenes Hobby. Damals (und auch heute noch) gab es Knüpfsets mit vorgezeichnetem Muster und zurechtgeschnittener Wolle. Meinen ersten Teppich habe ich mit 9 oder 10 Jahren geknüpft. Er war recht klein. Auf ihm stand viele Jahre unser Telefon. Heute hängt er an der Erinnerungswand meines Ateliers.

Ich erinnere mich während des Knüpfens an Menschen Situationen, Ereignisse, schöne, schlimme, lustige, traurige, peinliche … Erlebnisse, Farben, Formen, Ideen usw.

Meine Teppiche vermitteln Botschaften. Manchmal ist es nur ein Wort, manchmal sind es Sätze oder Zitate, die auf dem Teppich stehen. Es sind Dinge, die mich lange beschäftigen und bei denen ich es wichtig finde, sie in einen Teppich einzuknüpfen.
Einerseits, weil ich sie mitteilen möchte, andererseits, weil ich mich so intensiv über einen langen Zeitraum mit ihnen auseinandersetzen kann.

Wichtig ist die Wahl der Schrift. Aus der Schrift entsteht ein Muster, das die  Betrachter*in nur durch langes Schauen entschlüsseln und als Schrift erkennen kann.
Die Teppiche sind wie Rätsel.

Als Material verwende ich alte Socken, Strümpfe und Strumpfhosen, die teils aus eigenen Beständen, aber zum Großteil aus Spenden von Mitsammler*innen stammen.
Indem ich Freund*innen, Familie und Kolleg*innen zum Sammeln auffordere, beziehe ich sie in meine Arbeit am Teppich mit ein.
Mein Dank gilt Andrea B., Andrea H., Anna, Benedikt, Caroline, Eva, Hannah, Irmgard, Karin, Kathrina, Lars, Laura, Lukas, Marianne, Mila, Nils, Peter, Petra, Rachel und ihre Töchter, Ronja, Timo, Uli, Zoë und an alle, die noch für mich sammeln werden.
Der Teppich wird zu einem interaktiven Projekt, an dessen Entstehen und Gelingen sich viele Menschen beteiligen und mit denen ich mich verknüpfe. Im Vordergrund steht nicht (nur) das fertige Produkt, sondern der kommunikative Prozess, der durch das kollektive Sammeln in Gang gesetzt wird.

Mein neuer Teppich heißt SEXES EXESE XESEX … und befasst sich mit dem fließenden Übergang der Geschlechter. Aus Kreisen und Linien habe ich Buchstaben entwickelt, die sich fortlaufend über den Teppich ziehen. Zwei sich entgegen kommende Farbverläufe symbolisieren den fließenden Übergang der Geschlechter:

Von hell zu dunkel – von dunkel zu hell – von weiß zu farbig zu schwarz –
von schwarz zu farbig zu weiß.

Ich muss mich sehr konzentrieren, um mit dem Material, das ich habe, feine Farbverläufe knüpfen zu können.
Aber genau das macht die Arbeit für mich unglaublich spannend und fordert mich heraus.

Gelingt es mir, mit dem vorhandenen Material auszukommen?
Schaffe ich es, mit den Socken, Strümpfen und Strumpfhosen zu einer spannenden Farbigkeit zu gelangen?
Habe ich ausreichend Durchhaltevermögen, um den Teppich fertigzustellen, auch wenn es mehrere Jahre dauern kann? Und wird mein Interesse an der Arbeit nicht abflachen?

Während ich die ersten Wochen flott und entschieden arbeiten konnte, alles noch frisch und neu war, bin ich mittlerweile an einem Punkt angekommen, wo ich häufiger große, schon geknüpfte Teile wieder auftrennen musste, da der Farbverlauf nicht ausreichend gut durchdacht oder die Farbe zwar schön, an dieser Stelle aber absolut unpassend war. Welche Farbe ich wann wohin setze, hat Auswirkungen auf den weiteren Verlauf des gesamten Teppichs.
Ich muss mir das Material gut einteilen, denn nicht alle Farbtöne sind in ausreichender Menge vorhanden.
Wie eine Pointilistin setze ich verschiedenfarbige Punkte (Knoten) zu einer Fläche zusammen und erzeuge so einen neuen Farbton. Das erfordert  Planung und eröffnet gleichzeitig einen großen Spielraum an (Farb-) Möglichkeiten.
Das begeistert mich immer wieder und darin gehe ich komplett auf.

Ich freue mich sehr, dass ich den angefangenen Teppich auf der 5. KloHäuschen Biennale zeigen kann. Und vielleicht finden sich neue Sammler*innen, die sich mit mir verknüpfen.

Andrea Golla
Berlin 17.5.2020

Andrea Golla

 

*1964 in Ludwigshafen am Rhein
Studium an der Akademie der Bildenden Künste in München

2005 Diplom
2012 UM Festival 2012
2013 Artist in Residence, Begehungen Chemnitz
2016 Internationales Künstlersymposium, kunstort eleven Starzach-Börstingen
2017 Temporäre Kunstprojekte Marzahner Promenade

Lebt und arbeitet seit 2009 in Berlin
Seit 2009 Mitglied im Künstlerinnennetzwerk Frauenmuseum Berlin e.V.

www.frauenmuseumberlin.de