Alexander Steig
Isarkiesel
Steig © VG Bildkunst 2020
Die Isar mäandert 100 Meter rechts meiner Haustür und stellt einen innerstädtischen Naherholungsraum dar. In Folge der Renaturierung 2009 tauchen an wechselnden Stellen im Flussbett zwischen Praterinsel und Flaucher in Abhängigkeit zum Wasserstand und zur Strömung Kiesbänke auf und ab. Den größten Anteil bilden dabei Geschiebe aus Sedimentgestein ähnlicher Größe in verschiedensten Tönungen von fast weiß bis dunkelgrau. Bei regelmäßigen Spaziergängen suche ich nach Kieseln, weniger aus geologischen als aus bildhauerischem Interesse. Farbe, Gestalt und Größe entscheiden darüber, welchen Stein ich aus dem zahllosen, scheinbar gleichförmigen Geröll wähle und ausleihe.
Steht man am Fluss und greift nach einem Kiesel, kann man an den Heraklit zugeschriebenen Satz „Alles fließt“ bzw. in Plantons Deutung „Alles bewegt sich fort und nichts bleibt“ denken. Wenn nichts bleibt, wäre die Einzigartigkeit eines jeden Kiesels, seine „Identität“ eine temporäre Zuschreibung, sein Zustand zeitlich befristet, bis er zerrieben worden ist.
Was identisch erscheint, ist meist nur ähnlich. Dasselbe Ding kann aber unterschiedlich gesehen (ergo interpretiert) werden und als zwei oder viele Dinge erscheinen. Ob es sich dann hierbei um numerische oder qualitative Identität handelt, führt zu Überlegungen nach dem Wesensmerkmal sog. Identität, die die Summe an Eigenheiten z. B. eines Menschen oder Dinges kennzeichnet und als Individuum oder Entität von anderen unterscheidet. Identität kann auch behauptet werden (ein Isarkisel aus München bzw. den Alpen könnte auch ein aus dem Kieswerk Salzgitter-Thiede bzw. aus Skandinavien stammen). Man kann sich aber auch ganz einfach am „Naturschönen“ der Erscheinung erfreuen, an dem Meer an Steinen einer wassergesäumten Kiesbank und dem einzelnen, nassglänzenden Kiesel in der Hand.
Seit drei Jahren haben Isarkiesel Eingang in meine Closed-Circuit Videoinszenierungen gefunden. Sie werden in ihrer medialen Übersetzung zu „Findlingen“ und beherrschen ob ihrer Projektionsgröße den Raum. Ihre statische Anmutung trügt, die Kiesel drehen sich innerhalb von 24 Stunden um 360 Grad; Gletscher flossen ab und haben bis zum Ende der letzten Eiszeit den jeweiligen Stein bewegt und „geschliffen“. Die unmerkliche Drehung des Steines verweist auf diese Dynamik, dient aber auch dem Ansichtswechsel.
Steig © VG Bildkunst 2020
Für die Biennale habe ich eine analoge Variante dieser Inszenierungen entwickelt, die neben der Modellhaftigkeit eine eigenständige Fragestellung gegenüber dem Sujet Stein/Kiesel und seiner Einzigartigkeit zwischen Milliarden ähnlicher Steine formuliert, gleichzeitig aber auf das Originalwerk verweist und somit eine ergänzende Neuerung darstellen kann: Ein Isarkiesel wird zwischen zwei Spiegel gelegt, so dass er sich bei entsprechendem Blickwinkel links und rechts gegen unendlich doppelt. Diese Rekursion korrespondiert direkt mit dem von mir fast ausschließlich eingesetzten videotechnischen Closed-Ciruit-Verfahren (wenn man eine Kamera vor dem Monitor, der ihr Bild zeigt, positioniert, gibt es eine visuelle Rückkopplung). Eine Drehung des Steines erfolgt nicht, er liegt unbewegt.
In meiner malerisch-bildhauerisch geprägten Ausbildung band ich erstmals Ende der 1990er Jahre das Medium Video ein. Mein künstlerischer Schwerpunkt der medialen Rauminszenierung nutzt seither die vielseitigen Eigenschaften der sog. Neuen und Digitalen Medien. Das installativplastische Moment besitzt im Zusammenspiel mit den audiovisuellen Medien in der Erscheinung der Installationen eine gleichberechtigte Rolle. Mediale Raumbefragung und transmedialer Raum seien hier als Stichworte genannt. Die inhaltliche Ausrichtung verhandelt Kontrolle und Repression wie auch Wirkweisen medial vermittelter Bilder. Die „Bildkomposition“ der oft ereignisarmen oder -losen live übertragenen Videobilder (Non-Plot), die filmisch an eine Plansequenz erinnern, lädt die BetrachterInnen ein, die Projektionsfläche als Bildträger zu sehen und dabei auch eine formale Nähe zu Fotografie, Malerei und Fresko zu entdecken. Die Ausstattung hingegen erscheint neben ihrem plastischen Objektcharakter auch als bildgebende Requisite.
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